Das letzte Jahr war in vielen offenen Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe geprägt durch den Widerstand gegen die vom Hamburger Senat angekündigten Kürzungen im Bereich dieser Arbeitsfelder. Leider konnten die Kürzungen nicht abgewendet werden. Mindestens zwei Einrichtungen mussten schließen (das Spielhaus Blaue Welle und das MOBILO im Bezirk Bergedorf), weitere werden nach derzeitigem Planungsstand folgen (z.B. das Spielhaus Sandbek im Bezirk Harburg). Viele Einrichtungen mussten ihre Arbeit zugunsten weniger offener Angebote umstellen. Dennoch: umsonst war das Engagement für die Offene Arbeit – dieses besonders wichtige und wirksame weil freiwillig genutzte – Angebot der Kinder- und Jugendhilfe nicht:
„KEINE KÜRZUNGEN IN DER JUGENDARBEIT!“ – AUSWERTUNG
Anfang des Jahres 2012 drangen erste Nachrichten durch, wonach der Senat die finanziellen Zuwendungen für die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die Familienförderung sowie für die Jugendsozialarbeit und die Sozialräumliche Angebotsentwicklung im Doppelhaushalt 2013/2014 um 10,24 % kürzen wollte. Die Kürzungen sollten gleich auf zwei Ebenen erfolgen, nämlich in der bezirklichen Rahmenzuweisung und bei den Landesmitteln. Die Rahmenzuweisungen für die Bezirke sollten demnach um 3,5 Millionen Euro bei einem Gesamtetat von knapp 35 Millionen Euro gekürzt werden.
Der Senat und Bürgermeister Scholz begründeten dieses Vorhaben mit der Hamburger Schuldenlast in Höhe von 24 Milliarden Euro. Sie verknüpften die Finanzpolitik der Schuldenbremse mit der Ausgabelosung „Pay as you go“. Die Schuldenzunahme sollte demnach 0,88 Prozent nicht übersteigen und alle Mehrausgaben sollten mit Minderausgaben an anderer Stelle gedeckt werden. Spätestens 2019/ 2020 soll das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts ohne Neuverschuldung erreicht sein. Bis dahin wurde in der Planung die Höhe der künftigen Haushalte mit geringen, linear vorgenommenen Ausgabensteigerungen genau festgelegt, völlig unabhängig davon, wie stark die Steuereinnahmen tatsächlich ausfallen werden. Rund 72 % des Haushalts sind in Bezug auf Kürzungen unantastbar. Diese Ausgaben werden für gesetzliche Leistungen im Rahmen der Bundesgesetze, für Personalkosten, Zinsen aus Krediten und anderes benötigt. Von Anfang an konzentrierte sich die Kritik auf diese Form der Kürzungslogik des Senats.
Sozialsenator Scheele und die SPD sprachen von einer vertretbaren Kürzung, schließlich würden durch die Ganztagsbetreuung in den Schulen die Einrichtungen nicht mehr in dem Umfang genutzt wie vor der Einführung der Ganztagsschule. Auf die Hinweise, alle Einrichtungen würden doch mit den Schulen kooperieren und hätten entsprechend im sozialräumlichen Umfeld der Schulen Angebote im Rahmen der Nachmittagsbetreuung von Schülerinnen und Schülern geschaffen, gingen sie ebenso wenig ein wie auf das Argument, dass die Einrichtungen auch nach Schulschluss um 16:00 Uhr und an den Wochenenden Angebote vorhalten würden. Er sagte, die OKJA würde durch den Ausbau des Ganztagsschulprogramms nicht mehr in dem Maße benötigt.
Noch im März formierte sich in verschiedenen Bezirken Widerstand. Vornehmlich in den Bezirken Altona, Bergedorf, Eimsbüttel, Harburg, Nord und Wandsbek fanden sich schnell Beschäftigte der Einrichtungen und Projekte der Kinder- und Jugendarbeit zusammen, um gemeinsam gegen die Kürzungspläne vorzugehen. Landesweit fand sich unter koordinierender Führung des Verbandes Kinder- und Jugendarbeit Hamburg der „Große Ratschlag (gegen Kürzungen)“ zusammen. Rund 90 Vertreter/ -innen der OKJA, der Familienförderung und der Jugendsozialarbeit nahmen an der ersten Zusammenkunft teil. Auch die Folgetreffen wurden bis zu den Sommerferien gut besucht, erreichte aber nicht mehr die TeilnehmerInnenzahl des ersten Treffens.
Der Große Ratschlag beschloss die Herausgabe eines Flugblatts in hoher Auflage mit dem Titel „FÜR EIN KINDER-, JUGEND- UND FAMILIENFREUNDLICHES HAMBURG! FÜR DEN ERHALT VON ANGEBOTEN FÜR KINDER, JUGENDLICHE UND FAMILIEN! WIR SAGEN NEIN ZU DEN KÜRZUNGEN IN DER OFFENEN KINDER- UND JUGENDARBEIT UND FAMILIENFÖRDERUNG!“ Gleichzeitig begann mit der Verteilung der Flugblätter eine Unterschriftensammlung gegen die Kürzungen, die Online, auf den Straßen und in den Einrichtungen durchgeführt wurde. Zahlreiche Gewerkschaftsmitglieder, Mitglieder der Linken und anderer Parteien, Eltern und Anwohner/ -innen der Einrichtungen unterstützen aktiv die Unterschriftenaktion. Dazu später mehr.
In vielen Bezirken war die Empörung der Kolleginnen und Kollegen, der Eltern und Kinder groß. Nahezu alle bezirklichen Jugendhilfeausschusssitzungen wurden im Frühjahr besucht und dort wurde der Protest deutlich geäußert. Wäre dies nicht geschehen, hätten vermutlich die meisten Parteien nicht erkannt, welche Dimension die Kürzungen in der Jugendhilfe hatten. Der hartnäckige und laute Protest führte in den meisten Ausschüssen zu einem zum Teil lang währenden Abstimmungsbündnis gegen die Kürzungen von CDU, Grüne, Linke, FDP und JHA-Mitgliedern der AG § 78 und der Freien Träger. Die Motive der Parteien, sich gegen die Kürzungen in der Jugendhilfe auszusprechen, waren sicherlich unterschiedlich, doch waren sich die Parteien im Abstimmungsverhalten lange Zeit einig.
Die SPD stand in den Bezirken als „Kürzungspartei“ unter hohem Druck. Es führte bei der SPD in einigen Bezirken zu einem widersprüchlichen Abstimmungsverhalten in den jeweiligen Jugendhilfeausschüssen. So stimmten sie mal gegen, mal für die Kürzungen. Die SPD war verunsichert und fand einige Zeit keine Strategie des Umgangs mit dem Protest. Das war sicherlich ein Erfolg in der ersten Zeit des Widerstandes. In einer Reihe von Bezirken kam es zu weiteren Protestaktionen, so wurden Eingangstore der Bezirksämter symbolisch zugemauert oder öffentliche Parteiveranstaltungen besucht, um dort die anwesenden Politiker/ -innen zur Rede zu stellen. Die Presse wurde auf die Problematik aufmerksam und begann über die Kürzungspläne des Senats zu berichten. Der von einem Altonaer Kollegen entwickelte Aufkleber „SPD SCHÄM DICH! OFFENE KINDER- UND JUGENDARBEIT ZU KÜRZEN IST WEDER SOZIAL NOCH DEMOKRATISCH!“ war überall zu entdecken.
Als auch einige Bezirksversammlungen sich gegen die Kürzungen aussprachen, erhöhte sich der Druck auf den Senat. In dieser Zeit war die Unterschriftensammlung ein wichtiges Glied in der Kette der Aktionen. Mit ihr gelang es, auf der Straße und im Umfeld der Einrichtungen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und auf das Problem aufmerksam zu machen. Rund 25.000 Unterschriften wurden gesammelt. Allein 21.000 übergaben wir dem Ausschussvorsitzenden Gunnar Eisold im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Kinder-, Jugend- und Familienausschusses der Bürgerschaft, die auf Initiative der Linken zustande kam.
Als gute und wichtige Entscheidung des Großen Ratschlags erwies es sich, eine freie Journalistin für die Pressearbeit zu gewinnen, die permanent die Medien mit Informationen, Aktionshinweisen und Hintergrundberichten versorgte. Insbesondere vor den Sommerferien wurde hinsichtlich unseres Anliegens oft, positiv und kontinuierlich berichtet. So veröffentlichten neben den Stadtteilmedien vor allem die taz, das Hamburger Abendblatt und die Hamburger Morgenpost zahlreiche zum Teil umfangreiche Berichte, in denen einzelne Einrichtungen vorgestellt oder ausführlich öffentliche Sitzungen und Aktionen beschrieben wurden. Auch das Hamburg-Journal des NDR und Hamburg 1 berichteten mehrfach über die Kürzungspläne und den Widerstand dagegen (siehe auch www.nokija.de/presse).
Im Bezirk Mitte, dort war der Widerstand sehr zurückhaltend, bereitete ein „Kleiner Ratschlag“ eine Demonstration gegen die Kürzungsabsichten vor, die zeitlich mit der Anhörung verknüpft wurde. Rund 1.000 Kleine und Große setzten sich für die Rücknahme der Kürzungspläne ein. Der Demonstrationsroute führte vom Hachmannplatz bis vor das Rathaus. Rund 600 Teilnehmer/ -innen gelangten von dort aus ins Rathaus und bezogen engagiert und mit vielen qualifizierten Beiträgen in der Anhörung des Familienausschusses Stellung. Besonders eindringlich waren die Stellungnahmen von Nutzerinnen und Nutzern der Einrichtungen. Dies war sicherlich ein Höhepunkt im Kampf gegen die Kürzungspläne. Die Presseberichterstattung war sehr gut.
In dieser Zeit gingen von den Netzwerken in den Bezirken und vom Großer Ratschlag viele Initiativen und Aktionen aus. Es gelang darüber hinaus eine Verknüpfung mit anderen Netzwerken, Verbänden und Organisationen wie dem Arbeitskreis Kinder- und Jugendarbeit der Linken, den Gewerkschaften ver.di und GEW sowie den Wohlfahrts- und Jugendarbeitsverbänden, die sich zum Teil früh in den Widerstand eingeschaltet hatten. Es entwickelte sich außerdem das Rotstiftbündnis, das zunehmend einen positiven Einfluss nahm auf den Kampf gegen die Kürzungspläne.
In den sieben Verwaltungsbezirken zeichnete sich noch vor dem Sommer ein unterschiedlicher Umgang mit dem Problem ab. Während im Bezirk Altona jede Kürzung und jede Vorlage eines Jugendhilfekürzungsplanes kategorisch von der Versammlungsmehrheit aus CDU, LINKE, den Grünen und FDP abgelehnt wurde, stimmten Bezirke wie Bergedorf den Kürzungen aufgrund der Stimmenmehrheit der SPD zu. In Wandsbek wiederum kam man schnell darauf, Einrichtungen, Projekte und Personalstellen in den Bereich Sozialräumliche Hilfen und Angebote umzuschichten. Anderswo versuchte man, mit Restmitteln Kürzungen erst einmal für das Jahr 2013 zu vermeiden.
Auch der Senat und die SPD-Bürgerschaftsfraktion stellten ihre Argumentationsstrategie um. Sie wiesen nunmehr permanent darauf hin, dass der Senat zwar in der OKJA, in der Jugendsozialarbeit und in der Familienförderung kürzen wolle, aber keine Einrichtung verloren ginge, denn sie würden in die SHA umgeschichtet und somit weiterhin den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien zur Verfügung stehen. Von diesem Moment an wurde es uns schwer gemacht, in der Öffentlichkeit die Unterschiede in den Arbeitsbereichen, d. h. die unterschiedlichen Anforderungen, Umgangsweisen, Ansprüche und Zielsetzungen deutlich zu machen. In jedem Fall war es im Gespräch oder bei Interviews notwendig, das Konzept der Sozialräumlichen Hilfen und Angebote zu erklären und den Anlass, SHA einzurichten, zu benennen, um dann das Anliegen und die Möglichkeiten der offenen Arbeit sowie ihre Vorteile gegenüber den SHA herausstreichen zu können. Das überforderte zum Teil diejenigen, die wir überzeugen wollten.
Nach den Sommerferien wurde der Widerstand bei den Kolleginnen und Kollegen erheblich schwächer. Das hatte viele Gründe:
Insbesondere die zahlreichen Einrichtungen mit zwei und weniger Vollzeitstellen hatten im zunehmenden Maße das Problem, ihre Angebote weiterzuführen und gleichzeitig sich an Aktionen und Treffen zu beteiligen. Dafür fehlten Kapazitäten und Energie.
Inzwischen wussten eine Reihe von Trägern und Einrichtungen, dass bei ihnen keine Kürzungen bzw. keine bedrohlichen Mittelreduzierungen erfolgen würden. Damit erlosch bei vielen das Interesse, sich an weiteren Aktionen zu beteiligen.
Senat und SPD hatten sich in der Sommerpause gefangen und ihre Strategie der Außendarstellung verändert.
Die Sommerpause ist lang genug, um das kurzlebige öffentliche Interesse am Thema fast erlöschen zu lassen, da in dieser Zeit keine Aktivitäten von uns ausgingen. Im Grunde mussten wir beinahe bei null wieder ansetzen.
Unsere Pressearbeit wurde geschwächt, weil „unsere“ Journalistin nicht für uns weiterarbeiten konnte.
In Bezirken mit gut entwickelten Netzwerken in der OKJA gelang es weiterzumachen, in anderen mit eher schwachen Strukturen eben nicht. Vor allem in Altona und in Wandsbek blieb die Bereitschaft hoch, weiterzukämpfen.Im Verlauf der Auseinandersetzungen um die Kürzungen und Umschichtungen entwickelten sich zunehmend das Rotstiftbündnis, der AK Kinder- und Jugendarbeit mit ihrer Verknüpfung zu den Fraktionen der Linken in den Bezirken und in der Bürgerschaft, die Grünen sowie Wandsbeker und Altonaer Kollegen/ -innen zu Trägern weiterer Aktionen. Der parlamentarische Widerstand rückte ein wenig mehr nach vorn. In Altona wurde bis zuletzt jede Kürzung in der Bezirksversammlung konsequent abgelehnt und zwar mit den Stimmen der Grünen, die im Bezirk mit der SPD eine Koalition bilden und damit für eine gewisse Brisanz im Verhältnis zueinander sorgten. Die Grünen schlugen im Herbst ein Moratorium vor, wonach die Kürzungen um zwei Jahre aufgeschoben werden sollten. Dieser Antrag wurde in der Bürgerschaft abgelehnt. Die Unterstützung aller Oppositionsparteien blieb in den meisten Bezirken ungebrochen.
Im Forum Großer Ratschlag nahm die Beteiligung an den Treffen zeitweilig stark ab, wuchs dann wieder. Es wurde ein offener Brief an Senator Scheele mit der Forderung veröffentlicht, die Kürzungen umgehend zurückzunehmen. Die Wandsbeker Kolleginnen und Kollegen hatten in ihrem Bezirk eine Aktionswoche geplant und luden alle KollegInnen der anderen Bezirke ein, sich daran aktiv zu beteiligen, insbesondere bei den zentralen Aktionen in der Innenstadt. Leider wurde das Angebot kaum genutzt.
An Demonstration wie „Umfairteilen“ nahmen zahlreiche VertreterInnen der OKJA sichtbar teil. Andere Demonstrationen wurden, nicht unbedingt von uns, schwach besucht. Aktionen wie die kurzzeitige Besetzung der Mahatma-Gandhi Brücke fanden nur eine geringe Beteiligung.
Insgesamt betrachtet haben wir erfolgreich und mit viel Engagement und Phantasie Widerstand geleistet. Es führte nicht dazu, dass die Kürzungen nicht erfolgten – z.B. wurden im Bezirk Bergedorf bereits zwei Einrichtungen geschlossen –, doch fielen sie teilweise geringer aus als geplant. Wir haben auch nicht die Umschichtung von Einrichtungen und Projekten in die SHA verhindern können. Eine besondere Herausforderung wird es zukünftig sein, so viele offene Anteile und Ansprüche der offenen Arbeit in den neuen Bereich zu überführen, wie es möglich ist. Die Freiräume müssen wir selbst erkämpfen. Es wäre wünschenswert, wenn das Rotstiftbündnis als Partner und Mitkämpfer für die Ideale der OKJA und als kritischer Begleiter der Umsetzung von SHA und in Zusammenhang mit den Hilfen zur Erziehung und der Kooperation von Jugendhilfeeinrichtungen mit den Schulen im Rahmen der Nachmittagsbetreuung erhalten bliebe.
Ob in der OKJA oder in der SHA wird es wichtig bleiben, das Kind als Gesamtpersönlichkeit willkommen zu heißen und nicht defizitorientiert an das Kind heranzutreten. Die Beziehungsarbeit und das darüber gewonnene Vertrauen sind tragfähiger und nachhaltiger als eine Kompetenzförderung halbjährlich einmal die Woche.
Mit dem Fokus der Politik auf den Ausbau der Ganztagsschulen und der Kindertageseinrichtungen sowie auf die Installation von SHA zwecks Reduzierung von finanziellen Mitteln und von Maßnahmen bei den Hilfen zur Erziehung gerät die OKJA zwischen die Mahlsteine. Die Kooperation der Einrichtungen mit den Schulen und die Eingliederung vieler Projekte in die SHA hat letztlich die Zeiten verkürzt, in denen die originäre offene Arbeit Platz hat. Dies wird uns auch in Zukunft sehr beschäftigen.
Bedauerlicherweise haben wir einige Chancen liegen lassen wie die Nutzung des Tages der offenen Tür im Rathaus für unsere Zwecke oder die Übergabe von mehreren tausend noch nachträglich gesammelten Unterschriften an den Senat.
Nichtsdestoweniger war es ein von uns sehr intensiv und gut geführter Kampf, von dem wir bzw. die Einrichtungen und Projekte auch in Zukunft profitieren werden.
Autor: Volker Vödisch